14.10.11

wirklichkeiten


so sitze ich auf meinem lieblingsarbeitsplatz am holzbretterboden auf der terrasse u lese ueber kolumbiens erstaunlichen wandel von einem “failed state” zu einem international anerkannten entwicklungsmodell. namhafte liberale oekonomen loben zurzeit die wirtschaftspolitik des landes, ein freihandelsabkommen mit den usa ist grade in den letzten runden, um  ratifiziert zu werden.
das ist eine der vielen seiten dieses reichen landes.

vorige woche war ich bei der familie einer professorin in medellin eingeladen und gemeinsam mit ihren freund_innen sehr herzlich empfangen. das grosse interesse an meiner arbeit ging einher mit einer ungewissen angst und teilweise mit unwissen, was in der región uraba wirklich vor sich geht. medellin selbst hat eine sehr gewaltvolle geschichte, jede der anwesenden personen hatte erinnerungen an zeiten der gewalt in den strassen, an schuesse, leichen und angst. jetzt jedoch war ich zu gast in einem der reichsten viertel medellins in einem zweistoeckigen apartement mit glaenzenden dunklem holzboden und einer herrlichen sicht ueber die stadtlichter durch die fensterfront. eine kleine wohnung in luftiger hoehe eines bewachten wohnhauses inklusive zwei bakonen und vier toiletten - obwohl dort nur eine person lebt – und natuerlich ihre gaeste. es gab superleckeres essen und ich bekam einladungen und telefonnummern fuer reisen und fuer alle faelle. wir redeten ueber frankreich und ueber klimt bilder.

es ist so wahnsinnig beeindruckend und gleichzeitig schockierend und verwirrend, wie schnell es in lateinamerika moeglich ist, die szenarien zu wechseln wie tapeten, die mein leben signifikant unterschiedlich einfaerben (jedenfalls aus meiner weisshaeutigen position mit einem europaeischen pass, ein bisschen geld und ein paar kontakten).“wenn irgendwas passiert, setz dich einfach in den bus und komm zu uns!”
 es fuehlt sich jedenfalls gut an, solche inseln zu haben, in die ich mich jederzeit zurueckziehen kann und abstand nehmen von der bauerlichen realitaet unter militaerhubschraubern und tropischen regenguessen.

da war jedoch dieses gefuehl, das in mir aufkam, als ich diese lieben leute sprechen hoerte: beurteilungen aus einer distanz - ich bin mir nicht sicher, ob bewunderung, oder doch eher abneigung gegen die wahl eines derartigen lebensstils. ich meinte, kaum jemand von ihnen koennte sich vorstellen, in dieses gebiet zu reisen, geschweige denn dort ein normales leben zu fuehren.
eine realitaet, die in dem moment viel weiter weg war von uns als die europaeische.

ich redete offen ueber meine eingewoehnungsschwierigkeiten u die muehe und dauer mit der wir alltaegliche taetigkeiten wie waesche waschen und einkaufen durchfuehren. und ueber die herzlichkeit und dankbarkeit der leute, die internationale aufmerksamkeit zu bekommen. die abenteuerlichen arbeitstage. die prinzipien der friedensgemeinde, die mit groesster anstrengung und entgegen die herrschende politik ueber die letzten - mittlerweile fast 15 - jahre gelebt werden.

warum ich mir das aussuche, dort zu arbeiten, fragen sie.
hm, vielleicht, weil ich mir sonst keinen akademischen job haben werde, der so viel begleitarbeit und mitleben mit menschen erfordert? was bedeutet: in der natur zu sein und in einem gebiet, das sonst kaum leute kennen noch bereisen. und der gleichzeitig eine praxis der gewaltfreiheit darstellt. in aller ruhe der doerflichen abende, zwischen den pferden, die unsere bananen- und orangenschalen vor der tuer auffressen. mit staendigem blickkontakt zu den nachbarn in dem wachsenden raum, den wir mit-konstruieren, um diese insel ohne waffengewalt im umkaempften uraba zu erhalten.

jedenfalls fuehlt es sich sehr gut an, hier zu sein. und so verschiedene dinge erleben zu duerfen.

ich schluerfe meinen bananensaft, es riecht gut nach frischer waesche. emily arbeitet im gemuesegarten, gina ist mit freunden aufgebrochen, um avocados zu ernten. in den letzten tagen schlafe ich sehr gut hier und fuehle mich gut eingefuegt in das dorf, in entspannter praesenz und mit einem gesunden lebensstil.  so viel obst, so viel gute luft, so viel saunagefuehl. naechtliche yogauebungen auf der kuehlen terrasse.

es sind so andere dinge die uns hier beschaeftigen. ich habe begonnen, jeden abend um 7 mit den nachbarn die nachrichten zu schauen, ein einziger fixpunkt am tag. so erfahre ich ueber die attacken des militares gegen die farc in zwei bundesstaaten und die studentenproteste im ganzen land. unterbrochen durch viele werbepausen. produkte und menschen tanzen ueber den bildschirm, die sehr sehr weit entfernt scheinen von der erdbodenkueche in der wir sitzen: die hendln brueten in einem eck, das baby am arm weint und ein hund schleicht um meine zerstochenen fuesse.

ich habe die 6 woechige lekture des trainingshandbuches abgeschlossen und das erstellen der woechentlichen analysedokumente ist beinahe zur routine geworden. es wird jetzt ein bisschen frueher dunkel, abgesehen davon, dass es bei vollmond nicht wirklich dunkel wird. wir haben nie eile. ausser wenn wir unterwegs und so spaet dran sind vor einbruch der dunkelheit. wie vor einigen tagen bei unserem aufstieg. gina und ich rannten in der daemmerung den weg hinauf, und das mondlicht half uns, ueber die letzten wiesen gut ins dorf zu gelangen.  wir waren uns einig, dass wir im prinzip unten in la holandita uebernachten haetten muessen in dem fall.

jedenfalls wars gut, wieder angekommen zu sein, nach der besprechungswoche in medellin, wo wir bei einer teamklausur eine detaillierte situationsanalyse und einen arbeitsplan fuer die naechsten 6 monate erstellt hatten. ueber die naechsten ziele in der politischen und internationalen arbeit und ueber die notwendigkeit der aenderungen unserer begleitarbeit, der sicherheitsprotokolle und dem umgang mit den menschen. und mit vielen, vielen geschichten ueber die peace community. besprechungstage mit viel schokolade, milchkaffee und kosmopolitischen speisen, gekocht aus stadt-zutaten.

viele unterschiedliche realitaeten. und alle sind sie so real und existieren nebeneinander ein paar stunden und gespreache voneinander entfernt. 

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